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Was ist eigentlich Antisemitismus und was nicht?

Jüdischer Friedhof

Jüdischer Friedhof, pixabay

Ein Begriff ist leider wieder in aller Munde: Antisemitismus, Judenfeindlichkeit. Aber was macht einen Antisemiten zum Antisemiten? Und was ist Antijudaismus und Antizionismus? Eine kurze Geschichte des Antisemitismus. 


Antisemitismus ist Judenfeindschaft. Eigentlich ist es ganz einfach, möchte man meinen. Und in seinem Kern stimmt es auch. Wer Juden von Natur aus schlechte Charaktereigenschaften zuschreibt, um damit Diskriminierung und im extremen Fall auch Verfolgung zu legitimieren, ist ein Antisemit. Ein Menschenfeind, weil er Juden hasst, eben weil sie „Juden“ seien. Richtig. Aber sind nicht alle Völker des Nahen Ostens qua definitione Semiten und müssten dann Antisemiten nicht auch alle arabischen Völker hassen, weil sie semitisch sind? Und was hat Antisemitismus überhaupt mit Israel zu tun, wenn doch auch viele orthodoxe Juden den Staat Israel ablehnen. Sind Antizionisten dann zwangsläufig keine Antisemiten?

Antisemitismus ist Feindlichkeit gegenüber dem angeblichen oder tatsächlichem „Jüdischen“. Aber diese Judenfeindlichkeit hat mehrere Namen. Das macht es dann wieder so schwierig. Der Antisemitismus hat auf jeden Fall eine Tradition, die sehr viel älter als der Staat Israel ist. Er zeigt bis heute viele Gesichter.

„Der Antichrist“, „Gottesmörder“

Die klassischen antijüdischen Vorurteile sind so alt wie das christliche Abendland. Schon in der Antike gab es Judenfeindlichkeit gegen das Volk Israels, das im Gegensatz zu allen antiken Glaubenskulten an den einen Schöpfergott glaubte. Aber erst das Christentum sorgte europaweit für die Ausbreitung des Antijudaismus, wie der religiöse Antisemitismus genannt wird. Deren Wurzeln liegen in dem historischen Konkurrenzkampf zwischen Juden- und Christentum, der dadurch noch emotional verstärkt wurde, dass sich das Christentum aus dem Judentum entwickelte. Das Selbstverständnis der Christen, in direkter Abgrenzung zu den Juden die `wahre` Religion zu verkörpern, führte dazu, dass die Juden als von Gott verlassen, ja als die Feinde Gottes dargestellt wurden. Im christlichen Europa entwickelte sich so ein zentraler antijudaistischer Vorwurf: Die Juden haben Jesus Christus, den Messias, verraten und sind an seinem Tod schuld. Als Strafe für ihre Mordtat seien sie von Gott dazu verdammt, „heimatlos in der Welt umherzuirren“. Als der Antichrist, als das Böse.

„Kinderschänder“, „Wucherer“, „Weltverschwörer“

Mit dem Aufkommen der neuen Geldwirtschaft ab dem 12. Jahrhundert kam ein zweites zentrales, ökonomisches Stereotyp hinzu: der Jude als „Wucherer“ und „Ausbeuter“. Von den meisten handwerklichen Berufen weitgehend ausgeschlossen, wurden Juden in den Handel getrieben, besonders in den Geldhandel, der ursprünglich den Christen aus kirchlichem Dogma verboten werden sollte und schuf damit in ideeller Allianz mit den christlichen Konkurrenten aus dem Bürgertum das bis in Gegenwart wirksame antisemitische Vorurteil vom `geldgierigen` Juden. Während der großen Pest im 14. Jahrhundert wurde die Schuld für das Unverständliche bei den ghettoisierten Juden gesucht: „Brunnenvergifter“ hieß es und wurde Vorwand für Verfolgung und Ermordung. Auch die „Ritualmordlegende“, insbesondere die Anklage, bei Kulthandlungen Kinderblut zu trinken, führte immer wieder zu Pogromen im mittelalterlichen Europa. In diesem Zusammenhang kam zum ersten Mal in Zeitschriften auch die Mär von der Verschwörung einflussreicher Juden gegen die christliche Mehrheitsgesellschaft auf, der Beginn der „jüdischen Weltverschwörungstheorie“, die durch die Fälschung der „Protokolle der Weisen“ (1903) populär wurde und dann in der NS-Rassenlehre fatale Karriere machte.

Antisemitismus als Pseudowissenschaft

„Ausbeuter“, „Kindermörder“, das „Böse“. Die traditionelle antijüdischen Vorbehalte blieben in allen Teilen der Gesellschaft wirksam, als im Zuge des 19. Jahrhunderts im Namen der Aufklärung nach und nach die rechtliche Gleichstellung der Juden durchgesetzt wurde. Ja, die Judenfeindlichkeit bekam eine neue Qualität und einen neuen Namen: Antisemitismus. Der Journalist Wilhelm Marr erfand ihn 1897. Er wollte mit diesem Begriff die grundsätzliche genetische Abstammungsverschiedenheit zwischen Juden und Nichtjuden betonen. Die alten Vorurteile nahmen so  eine neue, „rassistische“ Qualität an. Antisemitismus wurde zu einer Pseudowissenschaft. Publikationen erhielten hohe Auflage, die die Vorherrschaft der Juden in Wirtschaft und Kultur beklagten und die „Minderwertigkeit“ der jüdischen Rasse belegen wollten. Der Boden war bereitet, auf dem im 20. Jahrhundert die kruden völkischen Thesen der Nationalsozialisten so fatal gedeihen konnten.

Filmplakat "Der ewige Jude" [1]

Filmplakat zum antisemitischen NS-Propagandafilm “Der ewige Jude/ Shutterstock 360b

Antizionismus als Möglichkeit von Antisemitismus
Nach der Shoa wurde offizieller Antisemitismus zum absoluten Tabu. Stattdessen gewann der Antizionismus an Bedeutung, die Ablehnung der Existenz des Staates Israel. Ende des 19. Jahrhundert war unter dem Eindruck des verstärkten Antisemitismus die zionistische Bewegung mit dem österreichischen Journalisten Theodor Herzl an der Spitze stärker geworden, die aber immer in der klaren Minderheit stand. Was zunächst weithin als Utopie galt, wurde nach dem Holocaust mit Zustimmung der Weltgemeinschaft Wirklichkeit: die Gründung des Staates im „Land der Väter“. Was von den meisten Juden nach der Katastrophe in Europa als Heimat und sicherer Zufluchtsort gefeiert wurde, wurde von streng orthodoxen Juden als Verrat am Judentum empfunden. Aus deren Perspektive sollte der Judenstaat von Gott und nicht von Menschen geschaffen werden. Diese antizionistische Sicht ist frei von antisemitischem, also prinzipiell judenfeindlichem Subtext.

Streng genommen kann es Antizionismus nach der Gründung Israels nicht mehr geben, weil der Staat politische Realität geworden ist. Antizionismus ist dafür zu einem Synonym für den Hass auf Israel geworden, gerade in der arabischen Welt. Um sich nicht dem Antisemitismus auszusetzen, bezeichnen sich viele als Antizionisten, die nichts gegen Juden hätten. Dies gilt auch für linke Kreise, zumal in der DDR der Antizionismus, die Gegnerschaft zum Staat Israel, staatliche Ideologie war. Kritik an der Politik Israels muss nicht antisemitischen Motiven entspringen, wenn konkret Maßnahmen kritisiert werden und nicht pauschal Juden beschuldigt werden. Tatsächlich sprechen in der Gegenwart vor allem viele palästinensische Widerstandskämpfer von der Vernichtung Israels als ihrem politischen Ziel, was letztlich nicht anders als die Vertreibung und Verfolgung von Juden bedeutet. Wenn dann zusätzlich kollektive Typologien wie „Kinderschänder“ oder „das Böse an sich“ als Vorwürfe auftauchen, ist man wieder beim klassischen Antisemitismus angelangt. Judenfeindlichkeit, gegen die die Aufklärung seit über 200 Jahren ankämpft.
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Christoph Marx [3]

Der Münchner Christoph Marx ist Publizist und Lektor und lebt in Berlin. Er arbeitet als Autor und Redakteur für viele namhafte Verlage und veröffentlichte bzw. verantwortete inhaltlich zahlreiche Werke, v.a. zu historisch-politischen, gesellschaftlichen, sportlichen und kulturellen Themen.Referenzliste unter Autor und Redakteur/Lektor.

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