Briefmarke 1962 Chile

Auch in der Mongolei war die WM inzwischen präsent. aarrows / Shutterstock.com

Bei der WM 1962 in Chile war von Anfang an der Wurm drin. Auf dem Höhepunkt des Kalten Kriegs zeigte der Fußball in einem Land ohne jede Fußball-Tradition sein hässliches Gesicht. Aus Sport wurde oft Krieg.

Die siebte Fußball-Weltmeisterschaft stand von Anfang an unter keinem guten Stern. Schon die Entscheidung 1958 von der FIFA unter der Ägide des Engländers Rous, die WM Chile zuzuschlagen, einem Entwicklungsland ohne große Fußballbegeisterung, irritierte viele. Dann erschütterte zwei Jahre vor der WM ein schreckliches Erdbeben das Land und zerstörte auch einige geplante WM-Städte ganz erheblich. Die Stadien wurden zwar rechtzeitig fertig, doch war das Erdbeben ein Vorbote dessen, was die Zuschauer in vielen Spielen erwartete: Zerstörung und Gewalt.

Defensive war Trumpf

In Chile wurde während der WM, für die sich insgesamt 16 Ländern , darunter allein 10 aus Europa qualifizierten, nur wenig Fußball gespielt. Geschweige denn schöner Fußball. Zu einer Zeit kurz vor der Kuba-Krise, als der Ost-West-Konflikt sich scheinbar wöchentlich verschärfte, geriet auch der Fußball in ideologisch-politische Fahrwasser. Ein Sieg wurde oft zur nationalen Pflicht hochstilisiert, die schönste Nebensache der Welt, der Fußball schien zu einer Fortsetzung des Krieges mit anderen Mitteln zu degenerieren. Entsprechend war auch die rein ergebnisorientierte „Catenaccio“-Strategie des legendäre Inter-Trainers Helenio Herrera das fußballtaktische Gebot der Stunde. Fast alle Mannschaft setzten auf strikte Defensive und die Zerstörung des gegnerischen Spiels. Das Spiel erlebte eine bisher ungekannte Brutalität. Trauriger Höhepunkt war das Spiel der Chilenen gegen die Italiener. In den ersten zwanzig Minuten wurde nur fünf Minuten mit Ball gespielt, haben Statistiker errechnet. Sonst attackierten sich die Spieler mit rüden Fouls oder es flogen die Fäuste. Ein chilenischer Spieler brach dem Italiener Maschio absichtlich das Nasenbein. Schiedsrichter Ken Aston war hilflos und griff kaum nicht. Später gab er an, aus Rücksicht auf seine Gesundheit das Spiel nicht abgebrochen zu haben. Fifa-Boss Rimet war so erschüttert vom Spiel, dass er überlegte, kein WM-Turnier mehr auszutragen.

Hundslangweilig

Wenn nicht getreten wurde, war es oft einfach langweilig, weil sich die Mannschaften einigelten. Beim trostlosen 0:0 der Engländer gegen Bulgarien war der einzige Höhepunkt ein Hund, der aufs Spielfeld stürmte: Auch ihm war es zu bunt geworden; wütend kläffte er minutenlang auf Bobby Charlton ein. Auch im Viertelfinale zwischen Brasilien und England sorgte ein streunender Straßenköder auf dem Platz für einige Verwirrung. Als er partout den Platz nicht verlassen wollte, hatte der Stürmer Jimmy Greaves die rettende Idee: er robbte sich dem Tier auf allen vieren an, packte beherzt zu und trug es vom Rasen. Solch tierische Unterhaltung hatte die deutsche Mannschaft dem Publikum nicht zu bieten. Sonst passte sie sich dem bescheidenen Niveau an. Auch Sepp Herberger setzte auf verstärkte Defensive. Der rechte Erfolg wollte sich aber nicht einstellen. Diesmal war schon im Viertelfinale Schluss: Gegen Jugoslawien verlor man unglücklich mit einem Tor kurz vor Schluss mit 0:1. Zu Hause geriet Herberger heftig in die Kritik – die Zeit des alten Trainerfuchs lief langsam ab, wenig später trat er zurück.

Brasilien einziger Lichtblick

Allein die Brasilianer trotzten der allgemeinen Defensivtristesse. Die brasilianische Mannschaft war fast dieselbe wie vier Jahre zuvor in Schweden und dominierte auch dieses Turnier. Für damalige Verhältnisse extrem professionell bereitete der Betreuerstab die Spieler auf die WM vor – Schuhe und Stollen wurden individuell angepasst, ja sogar Prostituierte in dem Vorrundenort wurden vorher auf eventuelle Krankheiten untersucht.

So präperiert gelang den Südamerikaner ohne große Probleme der Finaleinzug – und das ohne Péle. Der hatte sich in der Vorrunde verletzt und konnte bis zum Ende nicht mehr eingesetzt werden. Gegen die Überraschungsmannschaft der Tschechen (3:1) verteidigten die Brasilianer erstmals erfolgreich den Titel. Ein verdienter Sieg bei einer WM, die in Vergessenheit geraten ist. Zu Recht.

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Der Münchner Christoph Marx ist Publizist und Lektor und lebt in Berlin. Er arbeitet als Autor und Redakteur für viele namhafte Verlage und veröffentlichte bzw. verantwortete inhaltlich zahlreiche Werke, v.a. zu historisch-politischen, gesellschaftlichen, sportlichen und kulturellen Themen.Referenzliste unter Autor und Redakteur/Lektor.

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