SPD-Parteitag Bild Podium

Gedränge und Gemurmel auf dem SPD_Parteitag, eigenes Bild

Würselen war gestern. Martin Schulz setzt in seiner Eröffnungsrede auf dem Parteitag auf Europa. Ein Begriff, der so wolkig-rührselig wie die große deutsche Leidenspartei daherkommt. Eindrücke vom ersten Tag auf einem SPD-Parteitag.


Fußball und Politik haben bekanntlich einiges gemein, etwa die Phrasenhaftigkeit, die Abhängigkeit vom launischen Publikum, die Emotion, manchmal auch das Erst-über-den-Kampf zum Spiel finden. Allerdings performen Fußballer in der Regel in schöneren Stadien. Das, wenigstens das wollte die SPD diesmal anders machen.

Die ewige Vorhut von dem großen Guten  verhandelt zurzeit in dem schicken, neuen „Multifunktionswürfel“ am Messegelände Süd Berlin über sich selbst. Zwei Etagen, insgesamt mehr als 12.000 m² Platz, um sich zu treffen, unterhalten und sich einander zu vergewissern, einander zu berauschen, wenn man denn will. Ehrengäste, Altvordere, laute #NoGroKo-Jusos, Wirtschaftsvertreter, Kirchenvertreter – viel unterschiedliches Volk ist schon da. Ein Spiegelbild der Gesellschaft, so wie sie die SPD wahrnimmt und für die sie die großen gemeinsamen Fragen beantworten will– stellvertretend. Aber was macht man, wenn es diese Gesellschaft immer weniger gibt, in Zeiten der Individualisierung  „der Einzelne“ immer weniger „durch Gemeinschaft gestärkt werden will“ (Martin Schulz), immer mehr Einzelne einfach nicht in die patriarchalische Arme der Sozialdemokatie wollen.  

Eine große, vielleicht zu große Frage, an der vielleicht sogar Pep Guardiola scheitern würde.  Soll die Sozialdemokratie wieder Ballbesitz anstreben, Dominanz ausstrahlen und den Gegnern den Willen aufdrücken oder doch besser erst mal den Gegner kommen lassen und die so entstehenden Freiräume nutzen, um Nadelstiche zu setzen? Soll sie also forsch wieder in die Regierung  oder doch eher reaktiv in die Opposition gehen? Aber: Würde das Spielsystem was ändern?

Würde  die Sozialdemokratie nicht sowieso verlieren, egal wie sie spielt? Hat die Sozialdemokratie eine große Vergangenheit, aber keine Zukunft mehr? Wer weiß das wirklich schon? Die Sozialdemokraten würden es natürlich gerne wissen.

Sponsoren SPD

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Das sozialdemokratische Theodizee-Problem

Aber vielleicht hat Politik mehr noch als mit Fußball mit Religion zu tun, die SPD sicherlich. Beide teilen ja etwa den Glauben an eine richtige, sinnstiftende Idee – und den Zweifel an ihr. Gerade das theologische Problem der Theodizee, der Frage, warum Gott eine so gottlose Welt zulässt , ist der „revolutionären Partei, die keine Revolution macht“ (Kautsky) bestens bekannt, gehört gewissermaßen zum „SPD-Gentool“.  So kann man stundenlang zusehen, wie sich die große Partei des Leidens auch diesmal wieder mit sich und der Welt quält, die sich partout nicht nach den sozialdemokratischen Weltordnungsmodellen richten will. Mangel an Selbstkritik, protestantischer  Selbstgeiselung kann man der Partei nicht vorwerfen. Da bittet Martin Schulz mit großer Geste um „Entschuldigung“ für die Wahlkatastrophe im September und kündigt eine Aufarbeitung eines „20-jährigen Niedergangs“ an. Viele Beiträge sind getragen von Selbstkritik, aber auch von einer großen Ratlosigkeit, wenn man auf „Klarheit“ drängt und „kein sowohl-als-auch“ will, dergroße Vorsitzende dann in seiner Eröffnungsrede aber genau das gemacht hat: die große sozialdemokratische gesamtgesellschaftliche Erzählung, das große „Sowohl-als-auch“. Das Thema, das alles mit allem verbinden soll, ist der Name unseres Kontinents.

Last Exit Europa?

Was dem Pfarrer der Verweis auf den Himmel ist, ist dem großen, gefühligen Vorsitzenden Schulz in seiner Eröffnungsrede der Verweis auf Europa. Europa – eine scheinbar höhere Instanz, die im Hegelschen Sinn alle profanen gesellschaftlichen Widersprüche innerhalb der Nation und innerhalb der Partei auflösen und die Gesellschaft, also zumindest die SPD erlösen soll. Das ist alles clever aufgebaut in der rhetorischen Stilfigur der Klimax. Innerhalb weniger Minute benutzte Martin Schulz über 20-Mal das Zauberwörtchen.. Europa. Wir brauchen ein „entschlossenes Europa“, ein „offenes Europa“, ein „solidarisches Europa“, ein „entschiedenes Europa“, natürlich auch „einiges Europa“, auch wenn im Zweifelsfall einige Länder nicht mitmachen werden. Auf keinen Fall „weniger Europa“, denn „das ist nicht mein Europa“. Dafür ein „Europa der Bürger“, ein „Europa, das schützt“, denn „Europa ist unsere Lebensversicherung“, logisch. Und dann als Höhepunkt, das Ziel.  „Ein demokratisches Europa“, auch natürlich ein „soziales Europa“, nein, halleluja, Synthese, ein „sozialdemokratisches Europa“.  Was immer das auch ist. Wer’s glauben will, wird selig. Der Applaus ist freundlich.

Der Münchner Christoph Marx ist Publizist und Lektor und lebt in Berlin. Er arbeitet als Autor und Redakteur für viele namhafte Verlage und veröffentlichte bzw. verantwortete inhaltlich zahlreiche Werke, v.a. zu historisch-politischen, gesellschaftlichen, sportlichen und kulturellen Themen.Referenzliste unter Autor und Redakteur/Lektor.

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